Ist der Versuch des Einzelnen, zukunftsfähig zu leben nicht mehr als Gewissenspflege? Mitnichten, aber es bedürfe eines politischen Rahmens für das praktizierte Fundament, meint der Soziologe Harald Welzer.
So faszinierend die gerade entstehende und vor allem von jungen Leuten getragene Bewegung für ein nachhaltiges Leben und Wirtschaften erscheint, so begrenzt wirkt sie zugleich. Sicher: die Zahlen sind beeindruckend: Hunderte von Städten, in denen es Transition- Town-Initiativen gibt, in jeder größeren Stadt der Welt findet sich ein Urban Garden. Die Commons-Bewegung findet begeisterten Zulauf, und Sharing ist in aller Munde. Aber abgesehen davon, dass der Kapitalismus als geschmeidigste aller bekannten Wirtschaftsformen besonders in der Share-Economy blitzschnell Geschäftsmodelle entdeckt und ihren Sinn ins gewinnmaximierende Gegenteil verkehrt – steckt nicht die ganze Bewegung in einem fundamentalen Widerspruch?
Einem Widerspruch zwischen der global gerichteten Problemanalyse und der auf reiche Gesellschaften ausgerichteten Lösungsstrategie. Mehr noch: Sind nicht die oft sehr beeindruckenden, aber alles in allem doch partikularen, wenn nicht sogar luxurierenden Transformationsbeispiele ausgesprochen klein gegenüber der großen Party, die der globalisierte Kapitalismus gerade feiert?
Denn während in Nischen der reichen Gesellschaften neue Lebens- und Wirtschaftsweisen experimentiert und erprobt werden, nachhaltige Praktiken wiederentdeckt oder neu erfunden werden, verwandeln sich überall auf dem Planeten gerade nachhaltige in nicht-nachhaltige Lebensformen – man muss nur daran denken, dass in Peking die Fahrräder gegen Autos getauscht wurden oder selbst sehr arme Länder auf dem Weg zu mehr Fleischkonsum sind. Und in den reichen Ländern, wo wenigstens ein Nachhaltigkeitsbewusstsein existiert, feiert die permanente Erhöhung sinnlosesten Aufwands Triumphe: auf Absurditäten wie „Stadtgeländewagen“ und Kreuzfahrturlaube muss man ja erstmal kommen, aber beides verzeichnet rasante Zuwachsraten.
Nischen brauchen Rahmen, um das System zu verändern
Sind also alle zaghaften oder tatkräftigen Schritte in eine nachhaltige Richtung für die Katz und gerade noch gut für die eigene Gewissenspflege? Absolut nicht. Aber ihnen fehlt der politische Rahmen. Ein in jeder Hinsicht auf Expansion ausgerichtetes System kann man nicht allein dadurch verändern, dass in seinen Nischen andere Strategien wirksam werden – die gab es im Kapitalismus immer. Und entweder stören sie nicht oder aber sie liefern, wie ja gerade die Share-Economy zeigt, Anstöße für neue Geschäftsmodelle. Daher kommt es darauf an, wieder politisch zu denken: es geht um den Pfadwechsel in einen anderen Typ von Moderne, eines kulturellen Umbaus von der Expansion zur Reduktion. Vor diesem Hintergrund sind die kleinen Schritte umso wichtiger. Denn zwei Dinge kann man ja nicht wissen: Erstens, welche weiteren, unbeabsichtigten und nicht-antizipierbaren Folgen ein Pfadwechsel hat, wie er in den „kleinen“ Nischen ausprobiert wird.
Politisierungsgymnastik lässt uns besser werden im Abweichen
Denn jeder Schritt in eine vom Business as usual abweichende Richtung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch der nachfolgende zweite, dritte, vierte Schritt in dieser Richtung erfolgen wird – genauso wie umgekehrt das Verfolgen des konventionellen, nicht-nachhaltigen Pfades die Wahrscheinlichkeit einer irgendwann stattfindenden Abweichung verringert. Der erste Schritt ist selbst transformativ, er bringt neue Erfahrungen und damit eine neue Einstellung der eigenen Optik mit sich. Weil man die Dinge anders zu sehen beginnt, eröffnen sich Möglichkeiten weiterer Schritte. Es geht um das Schon-mal-Anfangen. Natürlich stellen sich bei den zweiten, dritten, vierten Schritten dieselben Fragen wieder.
Daher bedarf es der Einübung, einer Art Politisierungsgymnastik, die einen besser werden lässt im Abweichen. Und genau hier finden, zweitens, erfolgreiche Veränderungsprojekte ihre soziale und politische Funktion, sind sie doch allesamt – vom open source über das Mehrgenerationenhaus und die Energiegenossenschaft – Einübungen in den Pfadwechsel. Denn alle schlagen ja nicht nur einen anderen Pfad als den konventionellen ein, sondern liefern damit zugleich Inspirationen für weitere Pfadwechsel.
Nehmen wir das Beispiel einer britischen Schule, die um ein Haar für einen zweistelligen Millionenbetrag umgebaut worden wäre, weil sich in den Pausen zu viele Schülerinnen und Schüler durch die Gänge drängeln mussten. Da kam jemand auf den Gedanken, dass das Sicherheitsproblem nicht der mangelnde Platz war, sondern das Vorhandensein von nur einer einzigen Glocke. Wenn die klingelte, stürzte alles aus den Klassenräumen in die Flure. Die Installation von Glocken in den einzelnen Klassenräumen, die zeitversetzt klingelte, schuf hier Abhilfe – Materialeinsatz wurde durch Einsatz sozialer Intelligenz vermieden. Wenn man solche Beispiele kennt, fallen einem bei vergleichbaren Problemstellungen viel eher analoge Lösungen ein, als wenn es dieses Beispiel nicht gegeben hätte.
Handlungsspielräume aus veränderten Machtverhältnissen
Und außerdem werden Abhängigkeits- und Machtverhältnisse verändert, wenn neue Handlungsoptionen und Handlungsspielräume entstehen. Wer einen handbetriebenen Rasenmäher benutzt, Obst- und Gemüse selbst anbaut oder sich ein WikiHouse baut, wird graduell unabhängiger von fossilen Energien und entsprechenden Unternehmen, von industrieller Landwirtschaft, von konventionellen Geschäftsmodellen etc. Die Rolle, die Bioenergiedörfer und Energiegenossenschaften zum Beispiel in Deutschland spielen und wie sie, insbesondere seit der „Energiewende“, die großen Energiekonzerne in Bedrängnis bringen, deutet an, was ein allgemeiner Pfadwechsel bedeuten würde.
Das Bessere setzt sich nicht durch, nur weil es das Bessere ist
Je mehr konkrete Pfadwechselschritte es gibt, desto wahrscheinlicher wird die Attraktivität, zunächst aber auch einfach nur die Sichtbarkeit einer gesellschaftlichen Transformation. Gleichwohl befindet man sich mit einer solchen Perspektive noch im Geltungsbereich des Einwands, dass mit den Korrekturen, die hier vorgenommen und den Lebensstilen, die hier entwickelt werden, noch keineswegs ein gesamtgesellschaftlich oder gar global wirksamer Pfadwechsel eingeleitet ist.
Es wäre auch naiv, darauf zu vertrauen, dass das Bessere sich durchsetzen würde, weil es besser ist. Das Bessere, das haben alle sozialen Bewegungen gezeigt, setzt sich erstens nur dann durch, wenn die Konflikte, die mit seiner Durchsetzung immer verbunden sind, erfolgreich ausgetragen werden und zweitens, wenn es sich in die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse tiefenwirksam einschreibt.
Der im Stalinismus zum Tode verurteilte und 1938 hingerichtete sowjetische Ökonom Nikolai Kondratieff, der die Theorie aufgestellt hatte, dass die kapitalistische Entwicklung jeweils in Zyklen von etwa 50 bis 60 Jahren verläuft, hat unter anderem die folgenden Notizen hinterlassen:
- „Die meisten Organisationen, in denen sich Menschen kollektiv wehren können, besitzen keine eigene Produktionsstruktur. Im Ernstfall sind sie erpressbar.“
- „Wir müssen nach Organisationen der Solidarität suchen, die eine eigene Produktionsstruktur besitzen. Es gibt sie. In ihnen können Menschen sich nicht nur verteidigen, sondern (ohne ein System direkt anzugreifen) autonome Alternativen dagegensetzen. Nicht Utopie, sondern Heterotopie.“
Geld verändert das System: Divestment
Ohne ökonomische Autonomie, die mittels einer eigenen Struktur von Produktion und Konsumtion hergestellt wird, bleiben Protestbewegungen von den gegebenen Produktionsverhältnissen abhängig. Daraus folgt, dass Gegenbewegungen zum zerstörerischen Prinzip kapitalistischer Wachstumswirtschaft sich nicht auf Aufklärung, Protest und Argumente verlassen können, sondern der bestehenden Ökonomie, Politik und Alltagskultur eine andere entgegenstellen müssen.
Beispiele, die den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen versuchen, sind etwa die Divestment- Kampagne, die Bill McKibben initiiert hat: Sie geht von der simplen, aber höchst brisanten Überlegung aus, dass man ganzen Branchen die Geschäftsgrundlage entziehen kann, wenn man sein Geld dort herausnimmt. Das ergibt schon auf der Ebene privater Geldanlagen eine nicht unbeträchtliche Summe, gewinnt aber ganz erhebliches Gewicht, wenn die Stiftungsvermögen amerikanischer Colleges und Universitäten, die Vermögen kirchlicher Organisationen und die Haushalte von Kommunen nicht mehr dort investiert werden, wo damit künftige Überlebensgrundlagen zerstört werden.
Der Erfolg der Kampagne, die übrigens einen erfolgreichen historischen Vorläufer im Kampf gegen die Apartheit in Südafrika hat, ist frappierend: mittlerweile gibt es an fast 400 amerikanischen Schulen, Colleges und Universitäten entsprechende Initiativen, vier Colleges und zehn Städte, darunter Seattle und San Francisco, divestieren bereits. In Europa, wohin die Kampagne sich jetzt ausbreitet, hat sich das University College London angeschlossen, und man muss nur an die Summe der Stiftungsvermögen in Deutschland denken, um zu ermessen, wie viel Kapital dem Falschen entzogen werden kann. Besonders dann, wenn man ganz klassisch kapitalistisch denkt und in Rechnung stellt, das die von Divestment betroffenen Unternehmen auch für diejenigen keine gute Anlage mehr darstellen, denen völlig egal ist, auf welche Weise ihre Renditen zustande kommen.
Zugewinne an Arbeitsproduktivität in Zeitgewinne umlegen
Ein weiterer Ansatz ist, dass technischer Fortschritt in der Regel Zugewinne an Arbeitsproduktivität und an Energie- und Materialeffizienz mit sich bringt. Damit beinhaltet er auch das Potenzial, bei gleichbleibendem gesellschaftlichen Wohlstand die Reduktion der Arbeitszeit sowie des Material- und Energieverbrauchs zu ermöglichen. Untersuchungen zeigen, dass geringere Arbeitszeiten sich zusätzlich positiv auf die Nachhaltigkeit auswirken.
In der Wachstumsökonomie münden Effizienzgewinne aber nicht in eine Reduktion der Arbeitszeit, sondern in die Expansion der Produktion wie unvermeidlich auch des Konsums. Deshalb wird von Nachhaltigkeits- und Konsumforschern auch das Mittel der Arbeitszeitreduzierung diskutiert. Eine der prominentesten Vertreterinnen dieser Strategie ist die Soziologin Juliet Schor. In verschiedenen Studien konnte sie zeigen, dass der Umfang der Arbeitszeit mit einem geringeren ökologischen Fußabdruck einhergeht.
Das praktizierte Fundament für gesellschaftlichen Wandel
Auch das sogenannte Bedingungslose Grundeinkommen oder Bürgergeld nutzt Spielräume, die sich aus Produktivitätsfortschritten ergeben, alternativ zur heute dominanten Wachstumslogik. Für die konkrete Umsetzung werden verschiedene Varianten diskutiert, Kern des Konzepts ist jedoch, dass jeder Bürger ein Anrecht auf eine finanzielle Grundsicherung hat, ohne dafür eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Die Grundidee speist sich auch nicht aus ökologischen sondern überwiegend humanistisch- emanzipatorischen Motiven: Jede und jeder soll unabhängig von der jeweiligen Rolle und Funktion im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung als gleichberechtigtes und gleich bedürftiges Individuum Anerkennung finden.
In Deutschland ist bemerkenswerterweise ein Unternehmer, nämlich der Gründer der Drogeriemarktkette dm, Götz Werner, einer der prominentesten Befürworter der Grundeinkommens- Idee. Er schlägt vor, die Einführung über eine verstärkte Besteuerung des Konsums zu finanzieren. Ansätze dieser Art zielen ins Herz der gegenwärtigen wirtschaftlichen Praxis und sind im Unterschied zu guten Argumenten für weniger Naturverbrauch und Emissionen geeignet, tiefgreifende Veränderungen anzustoßen.
Das bedeutet aber nicht, dass die vielen kleineren zivilgesellschaftlichen Ansätze, Initiativen und Experimente unwichtig wären. Sie bilden vielmehr das praktizierte gesellschaftliche Fundament, auf das „größere“ und vielleicht auch radikalere Ansätze aufbauen können. Insgesamt, scheint mir, muss die Bewegung wesentlich politischer werden als sie es im Augenblick noch ist. Es genügt nicht, nur für etwas zu sein. Man muss zugleich auch gegen den nicht-nachhaltigen Mainstream vorgehen.
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Zuletzt aktualisiert am 18. Januar 2016