Die Art und Weise wie wir siedeln, bauen und wohnen ist entscheidend für unsere Zukunft, und „die interessiert mich nicht“, sagt Roland Gnaiger. Wie geht das zusammen? Harald Gmeiner hat mit einem der renommiertesten Architekten Österreichs und dem langjährigen Wegbegleiter des Energieinstitut Vorarlberg ein Gespräch geführt, das in der Sonderausgabe unserer Institutszeitschrift max50 erschienen ist.
Roland, du als ausdauernder Gestalter und Beobachter der Vorarlberger Entwicklungen bist gefragt: 50 % unserer Umweltbelastungen verursacht das Bauwesen, es nimmt somit in der Zukunftsbewältigung – Stichwort Energieautonomie des Landes Vorarlberg, oder Abwehr des Klimawandels eine bedeutende Rolle ein. Wir müssen handeln, was ist zu tun?
Wir wissen doch, dass es so nicht weitergehen darf und kann. Aber: „Müssen“ ist keine Option. Die Perspektive der Umwelt- und Zukunftsbedrohung baut ein Einschüchterungsszenario auf, das Nichts bis Schädliches bewirkt. Angstmachen ist eine abendländische, traditionell christliche Untugend derer sich besonders die politischen Verführer und gewisse Wirtschaftsinteressen bedienen. Seit 40 Jahren beobachte und verteile auch ich Vernunftappelle, deren Wirkungen mehr als fraglich sind. Ich glaube nicht mehr daran, dass sich damit Wesentliches bewegen und verbessern lässt. „Rauchen kann tödlich sein“ – ändert diese Drohung unser Verhalten oder aktiviert sie die Vernunft? Unser Handeln wird viel mehr von gut versteckten Süchten, Sehnsüchten, Defiziten aber auch von echten, jedoch unbewussten Bedürfnissen bestimmt und von Leit- und Imagebildern beeinflusst. Entweder wir kommen in deren Tiefe, oder wir stellen bessere, anziehende Alternativen vor. Meine Erfahrung ist: Seit ich nicht mehr gegen Entwicklungen „ankämpfe“ sondern mich für heilsamere und attraktivere Alternativen engagiere und auf Potenziale sehe, ist meine Wirksamkeit enorm gewachsen.
Wir dürfen Begeisterung und Freude entwickeln! Nachhaltigkeit in ihren vielen Facetten ist enorm spannend, eine herrliche Herausforderung, enorm lustvoll. Alle unsere intellektuellen und emotionalen Kräfte werden in ihr lebendig, wie auch Empathie und Mitgefühl. Wir dürfen wieder ganze Menschen sein. Nie hat beispielsweise jemand gesagt, wir müssen mit Holz bauen, sonst geht die Welt zu Grunde. Nein, die Leute kommen in die holzgebauten Häuser und sagen: „Wunderbares Klima, feine Atmosphäre, das gefällt mir.“ Und deswegen hat der Holzbau eine so große Akzeptanz gefunden. Damit wurde ein großer Beitrag zu einer verantwortungsvollen, nachhaltigen Architektur und gesellschaftlichen Entwicklung erreicht. Studienrichtung Architektur an der Kunstuniversität Linz, somit auch als einer der junge Menschen anleitet, musst du ein Sensorium für die Zukunft entwickeln. Welchen Stellenwert wird das Thema Nachhaltigkeit in Zukunft einnehmen bzw. welche globalen Rahmenbedingungen, Trends und Entwicklungen werden wichtig werden? Welche Bedeutung das Thema Nachhaltigkeit haben wird, weiß ich nicht und interessiert mich auch nicht. Ich folge nicht mehr dieser Zukunftsfixierung. Sie ist vom Marketing und der Werbung instrumentalisiert.
Die Zukunft ist ein abstrakter Raum der alle Kräfte aus der Gegenwart absaugt ohne Früchte zu tragen. Ich halte es da mit Robert Walser: „Ich will keine Zukunft. Ich will eine Gegenwart haben.“ Wir haben in der Gegenwart genügend Themen und Probleme, die zu bearbeiten lohnen. Gehen wir mit diesen gut um, dann müssen wir uns keine Sorgen um die Zukunft machen. Sicher ist, wenn man ein bisschen kritisch und umfassend auf die Welt schaut, sollte Nachhaltigkeit einen hohen Stellenwert einnehmen. Sie hat mit Ökonomie, mit vernünftigem Haushalten und mit Gestaltung im viel umfassenderen Sinne zu tun. Gestaltung ist kein Privileg der sogenannten Kreativberufe. Nachhaltigkeit ist Verantwortlichkeit in einem umfassenden Sinn, gegenüber der Schöpfung, den uns nachfolgenden Generationen. Sie ist kein Aufruf zum Verzicht, sondern eine Einladung mit Freude zu handeln. Im Gegensatz dazu steht eine Konsumhaltung als eine gedanken-, genuss- und freudlose Verschwendungsmentalität. Übelkeit vor Überfluss ist zu einem Regelfall geworden. Maßlosigkeit hat jedoch noch niemanden glücklich gemacht. Ich glaube, dass letztlich all diese Fragen in die Fähigkeit zu einer geglückten Lebensgestaltung münden.
Sind Trends wie die Verstädterung und der weltweite Bevölkerungszuwachs oder die Überalterung und der hohe Wohnnutzflächenzuwachs in Europa auch für uns in Vorarlberg zutreffend?
Natürlich, alle diese Entwicklungen treffen auf Vorarlberg zu. Wir sind hier geradezu ein Paradefall der prototypischen westlichen Lebensform. Allenfalls bezüglich des Bevölkerungswachstums sind wir in umgekehrter Richtung wie die Schwellenländer betroffen. Aber auch das könnte sich durch die neuen, erzwungenen Bevölkerungsströme schnell verändern. Wenn wir auf diese Gegebenheiten nicht adäquat und zeitgerecht reagieren, wird es uns, jedenfalls in der heutigen Form, bald nicht mehr geben. Angemessen reagieren heißt in diesem Zusammenhang, intelligent und nachhaltig. Und dafür sind alte, traditionelle Handlungsformen und Leitbilder nur sehr bedingt und differenziert zu gebrauchen. Wettbewerb und Leistung, als Leitmotiv einst Motivationsspender, führen heute nur noch zu Überforderung, zu kollektivem Burn-out oder drängen in kriminelle Machenschaften. Die Gegenwart ist voll davon. selbst die angesehensten gesellschaftlichen Institutionen sind davon betroffen.
Also welche Strategie und welche neuen, positiven Leitbilder? Heißt das weg von der Verstädterung?
Der Begriff der Verstädterung ist negativ besetzt – ein großes, ein sehr schädliches Missverständnis! Das Problem ist nicht die Verstädterung, nicht die Dichte der Bebauung, sondern die Zersiedlung und der qualitätslose Landverbrauch. Historische Altstädte führen vor, dass große Verdichtung und hohe Lebensqualität sehr gut zusammengehen, wesentlich mehr als viele Gebiete die nur einen Bruchteil dieser Konzentration kennzeichnen. Nicht die Dichte ist das Problem sondern qualitätslose Bebauung und mangelndes Raumverständnis, verbunden mit den Belastungen die aus Verkehrslärm und Emissionen resultiert. Meine Wohnung am Hauptplatz in Linz bietet mit ihrem Arkadenhof ein sehr viel ruhigeres und beschaulicheres Wohnen als andere Wohnformen, selbst als die historischen Dörfer und Villenviertel. Ergänzt um großzügige Grünflächen auf den Dächern wäre dies eine überlegene Wohnform. Nicht zu reden von der Nähe aller Infrastrukturangebote, kulturellen und sozialen Einrichtungen und der Möglichkeit, auf ein Auto zu verzichten.
Die Stadt, die wirkliche Stadt hat eine große Zukunft. Auch unter dem Aspekt des Energieverbrauchs sollte die Stadt und mit ihr die Besiedlungsform ein viel größeres Gewicht bekommen. Wem bereitet den heute Autofahren noch Vergnügen? Sicher einer geringen Minderheit, und die soll ihre Freude daran haben. Würde der Zwangsverkehr entfallen, der Verkehr den wir nicht freiwillig – zur Arbeit etwa, zum Einkauf, zum Arzt, oder zum Abendsport – zurücklegen, der überwiegende Teil unseres Verkehrsproblems wäre gelöst. Der wichtigste Beitrag dafür ist die Dichte, die Bauform und die funktionale Durchmischung unserer Dörfer und Städte.
Das Einfamilienhaus hat in Vorarlberg einen hohen Stellenwert und die Zersiedelung ist sehr ausgeprägt. Welche Herausforderungen werden auf das Siedlungs- und Bauwesen in Vorarlberg zukommen?
Wir haben in Vorarlberg ein historisches Siedlungsmodell „weitergestrickt“ – ohne zu bemerken, ab welchem Punkt diese Form, sei es auf Grund der Größenverhältnisse oder der Wirtschaftsund Lebensformen, nicht mehr stimmt, ganz und gar nicht mehr passt. Heute stehen wir vor sozialer Entmischung, monokulturellen Bau- und Lebensformen und dem ständigen Zwang, mit großem Aufwand alles wieder zu durchmischen und zu verteilen was wir auseinander gezogen oder getrennt haben: die sozialen Angebote, die Versorgung, Kult und Kultur, Arbeit und Freizeit. Das hat mit dem traditionellen Dorf und den Wunschbildern rein gar nichts mehr zu tun. Leider stellt sich das Einfamilienhaus für seine Bewohner / innen meist erst im Alter als Sackgasse dar. Aber weil Weitsicht nicht zu unseren gesellschaftlichen Stärken und Tugenden gehört, setzen wir dieselben Entwicklungen noch immer fort. Wir brauchen etwas zwischen dem Einfamilienhaus und dem routinierten, ökonomisch optimierten, phantasie- und lieblosen Wohnblock, der uns als unausweichlich erscheint. Und, dass es dazu Alternativen gibt, das ist die gute Nachricht. Generell aber ist das Wohnen nicht getrennt von allen andern Lebensformen zu sehen. Das ganze Dorf und die Stadt müssen wieder mehr in den Zusammenhang und Fokus der Wohnfrage rücken.
Was bedeutet das für Vorarlberg konkret? Brauchen wir das Aufstocken bestehender Bauten, andere Besitzstrukturen, ein neues Raumplanungskonzept und das Rückwidmen unsinniger Siedlungsflächen?
Von allem etwas: eine wert- und attraktivitätssteigernde Nachverdichtung, eine Abkehr vom Modell des singulären Wohnens im freistehenden Einzelhaus (das heute ja schon Singles und Paare erfasst), die Nutzung von Lücken und Leerständen – sowohl in Siedlungsgebieten als auch in den Ortszentren. Dort wo noch neu gebaut werden soll, neue Verdichtungs- und Durchmischungsformen räumlicher, funktionaler und sozialer Art. Die Hereinnahme von liebevoll und gekonnt gestalteten und lebendig nutzbaren Grünräumen (private, nachbarschaftliche und öffentliche) auch in dichte Bebauungsformen. Der schwierigste Punkt liegt wohl bei der Raumplanung, bei den unsinnigen und falschen Widmungen und bei den Besitzrechten.
Aber spätestens wenn sich tradierte Grundwerte gegen das Leben selbst, gegen eine vernünftige Zukunft und Perspektive, vor allem der jungen Menschen richtet, müssen sie diskutiert und in Frage gestellt werden. Denn gerade dort, wo ausgewiesene Bauflächen sinnvollerweise als erstes genutzt werden sollten, werden sie auf Vorrat gehalten, gehortet oder wird mit ihnen spekuliert. Diese Praxis richtet sich extrem gegen das gesellschaftliche Gesamtwohl und eine gedeihliche Entwicklung. Es gäbe einen großen raumplanerischen Regelungsbedarf und eine hohe Notwendigkeit dazu, auch gibt es viele kreative raumplanerische Gestaltungsmöglichkeiten, selbst im heutigen Rechtsrahmen.
Aber der politische Wille folgt zumeist (noch) anderen Kräften. Offensichtlich müssen das Versagen der Raumplanung und die Siedlungspleite noch viel krasser und schmerzhafter werden. Das ist aber kein Grund für eine absolute Tatenlosigkeit. Handlungsmöglichkeiten gibt es noch genug. Einige meiner Diplomanden widmen sich dem Thema der Nachverdichtung und Strukturverbesserung der vielen gesichtslosen Zersiedlungsbeispiele, auch mit Vorarlbergbezug. Wir werden die Ergebnisse vorstellen, allesamt werden Hoffnung spendende und Perspektiven eröffnende Vorschläge.
Gibt es bereits gelungene Beispiele für Quartiere im ländlichen oder städtischen Bereich?
Es gibt in Österreich wunderbare Beispiele räumlicher Verdichtungen. Bezüglich funktionaler und sozialer Durchmischung bestehen allerdings auch bei diesen noch Defizite. Trotzdem, sie sollten viel bekannter sein da sie die gängigen Vorurteile und Ängste vor Verdichtung und Verlust an Privatheit entkräften könnten. Gerade die Privatheit ist in guten, verdichteten Flachbauten zumeist größer als im üblichen Siedlungsangebot. Und bezüglich architektonischer Qualitäten sind diese Beispiele weit überlegen.
Beispielsweise mit den Siedlungen von Roland Rainers in Puchenau, ganz bei Linz, eine Siedlung im Umfang einer kleinen Stadt. Für jedes dort verkaufte Haus stehen lange Bewerberschlangen an. Oder die Siedlung Gugl Mugl von Architekt Fritz Matzinger, wie auch seine Bebauungen Les Palestuviers I+II in Linz. Auch Krems an der Donau hat zwei ausgezeichnete Mustersiedlungen vorzuweisen, die sich auf Vorarlberg gut übertragen ließen. Architekt Linsberger war ihr Entwerfer. Innsbruck hat ein wunderbares Beispiel mit der Siedlung Pumpligam von Architekt Fritz. Auch in Graz kenne ich drei Leitprojekte, aber nicht zuletzt sind die frühen Beispiele der Cooperative und von Markus Koch, von Rudolf Wäger und Hans Purin so vorbildhaft, dass man sich fragt wieso wurde dieser Strang nicht weiter verfolgt. Es mangelt uns an Umsetzungsbemühung und dem Willen aus der einfachsten und gewohnten Routine auszubrechen.
Wie werden Siedlungen und Gebäude in Zukunft aus deiner Sicht aussehen?
Das kann ich erstens nicht sagen und zweitens wünsche ich mir, dass es nicht eine Antwort auf diese Frage gibt, weil wir weiterhin viele unterschiedliche Lebens-, Bau- und Wohnformen haben werden. Die Städte, und dazu gehören auch unsere verstädterten Siedlungsagglomerate, leben von der Vielfalt und Unterschiedlichkeit ihrer Bewohner / innen. Ich wünsche mir, dass es mehr Angebote für eine nachhaltige Lebensform gibt, insbesondere auch für Kinder, junge und alte Menschen, die wenig mobil sind und sich weniger leisten können.
Ich glaube, dass Jede(r) die / der möchte im unmittelbaren Nahbereich einen privaten Freiraum haben sollte. Allerdings in der Größe, die für einen Freisitz erforderlich ist oder die gärtnerisch bewirtschaftet werden kann. Vielleicht in der Form schöner Innenhöfe oder von Dachterrassen und Sonnendecks, auf denen auch Urban Gardening eine Option ist. Zu Fuß laufen wird eine Renaissance erfahren, alle täglichen Bedürfnisse sollten auf diese Weise gedeckt werden können. Die täglichen Wege sollten auch Erlebnis- und Begegnungswege sein, weil sich die Siedlungen durch attraktive Aufenthaltsräume, Straßen und Plätze auszeichnen. Private Autos sind von gestern, Carsharing ist max. 100 Meter von der Wohnungstür entfernt. Der Bus fährt alle 10 bis 15 Minuten, in maximal 200 Meter Entfernung. Im Nahbereich befinden sich attraktive Angebote für alte Menschen, Jugendliche und Kinder. Es gibt Parkanlagen für Muße, Freizeit und Sport. Arbeiten und Wohnen rücken nahe zusammen, so wie das in alten Städten war. Noch ist unser Wohnraum für viel zu spezifische Bedürfnisse maßgeschneidert und daher nur zehn Jahre gültig (z. B. die heutigen Kinderzimmer, die sich nach dem Hinauswachsen der Kinder nicht für ganz andere Funktionen eignen).
Wir brauchen Räume (Gebäude) die flexibel nutzbar sind oder sich leicht an die sich wandelnden Bedürfnisse der Nutzer anpassen lassen. Unsere Häuser sind aus nachwachsenden Rohstoffen, haben ein angenehmes Klima, sprechen sinnlich und haptisch an, d. h. sie riechen auch noch gut. Das alles ist ein wenig wie in „Panama“ – der Geschichte von Janosch, als der Tiger und der Bär nach langen (Irr-) Wegen zu ihrem Ausgangspunkt zurückfinden und alles neu und begeisternd finden. Oder so wie Marcel Proust das sagte: Der Vorgang der Entdeckung besteht nicht darin, Neuland zu finden, sondern das Vorhandene mit anderen Augen zu sehen. Aber die „Um-Wege“ waren nicht umsonst: Auf neuem Niveau, ergänzt um viele Verbesserungen und Erweiterungen, kehren wir zu manchem bereits Bekanntem alter Städte und Dörfer zurück.
Diesen und weitere spannende Perspektiven zu sechs Kernthemen des Energieinstitut Vorarlberg können Sie in der Sonderausgabe der Institutszeitschrift max50 nachlesen – kostenlos und digital oder analog. Alle Infos zur Sonderausgabe und die Möglichkeit, diese kostenlos anzufordern, finden Sie hier.
Zuletzt aktualisiert am 26. Januar 2016