Die 10. Session des economicum fand am 22. Oktober 2020 im Montforthaus in Feldkirch statt. Unter dem Titel „Die Erkenntnis-flatrate“ wurden die Resultate von 7 Jahren praxisbezogener Wohnbauforschung zum Neubau energieeffizienter und wirtschaftlicher Mehrfamilienhäusern vorgestellt. Die Ergebnisse waren im Rahmen des vom Energieinstitut Vorarlberg geleiteten EU-Projekts „Low Cost nearly zero energgy buildings“ so aufbereitet worden, dass sie auf Nachfolgeprojekte übertragen werden können

Resumé der Veranstaltung

Die in der 10. Session vorgestellten Erkenntnisse der Praxis-Modellvorhaben der vergangenen Jahre können wie folgt zusammengefasst werden:

  • Höchste Hülleffizienz ist wirtschaftlich und Voraussetzung für jede Art von klimaschutzverträglichen Gebäuden.
  • Das Ölverbot im Neubau ist in Kraft, Gas wird gemäß Bundes-Regierungsprogramm ab 2025 für Neubauten verboten werden.
  • Ab spätestens 2025 werden damit für den Neubau von Mehrfamilienhäusern nur noch Wärmepumpen und erneuerbare Fernwärme zur Verfügung stehen. Da die Biomassepotenziale in Vorarlberg annähernd ausgeschöpft sind, sollten biomassebeheizte Mehrfamilienhäuser nur in Ausnahmefällen realisiert werden. Biomasse sollte statt dessen – möglichst im Winter – in Fern- und Nahwärmenetzen genutzt werden. Der Biomasseverbrauch im Sommer sollte durch Solarthermieanlagen gesenkt werden, die in die Nahwärmenetze integriert werden. Größere Anteile der Biomassenutzung in Nah- und Fernwärmenetzen sollte in Form von BHKWs erfolgen.
  • Elektrisch direkt beheizte Gebäude sind wegen ihres hohen winterlichen Strombedarfs keine Lösung für den Neubau von Mehrfamilienhäusern.
  • PV wird aufgrund der deutlich gesunkenen Kosten – besonders in Kombination mit wärmepumpenbeheizten Gebäuden – zum Standard-Solarsystem werden.

Für den Neubau von Wohngebäuden ist durch die Modellvorhaben demonstriert, dass klimaschutz-kompatible Standards kostenoptimal, d.h. wirtschaftlich mit unterschiedlichen Konzepten umsetzbar sind.  Alle notwendigen Komponenten und Produkte sind vorhanden.

Als nächster Schritt ist die Politik gefordert: es gilt, in den Bautechnikverordnungen die in der Praxis aufgezeigten kostenoptimalen Standards vorzugeben, Gas in einem Stufenplan bis spätestens 2025 aus dem Neubaumarkt zu verdrängen und mit gezielten Förderungen eine schnelle Markteinführung zeitgemäßer Standards zu unterstützen.

Das Energieinstitut Vorarlberg wird zu diesem Zweck ab 2021 ein neues Beratungsprogramm zur energetisch-wirtschaftlichen Optimierung von Mehrfamilienhäusern mit maßgeschneiderten fossilfreien Energieversorgungssystemen anbieten.

Hinweis: Der Themenband zur 10. Session erscheint Ende Februar 2021 und kann über den Broschürenshop bezogen werden.

 

Die Beiträge im Überblick

In seiner Einführung analysierte Martin Ploss vom Energieinstitut Vorarlberg den Status Quo des Neubaus von Wohngebäuden in Vorarlberg. Er zeigte auf, dass

  • der mittlere Heizwärmebedarf seit 2012 nicht mehr sinkt
  • der Anteil gasbeheizter Wohngebäude seit etwa 2014 bei ca. 26% stagniert
  • das sehr starke Marktwachstum bei den Mehrfamilienhäusern von durchschnittlich 27% p.a. seit 2009 ein Haupttreiber für die Marktüberhitzung und die stark steigenden Baupreise ist
  • ein weiterer Grund für die starke Steigerung der Wohnungs- und Hauspreise in der Steigerung der Grundstückspreise (83% innerhalb der vergangenen 5 Jahre) liegt
  • dass die minimalen baulichen Mehrkosten hocheffizienter Gebäude nur einen sehr geringen Anteil an den Kostensteigerungen haben und im Lebenszyklus durch geringere Energiekosten mehr als kompensiert werden

Als Ausblick auf die kommenden Jahre fasste er die internationalen, nationalen und regionalen Energie- und Klimaschutzziele zusammen und resumierte, dass zu deren Umsetzung deutlich schnellere Reduktionen des Endenergiebedarfs und der Treibhausgasemissionen des Gebäudesektors notwendig seien, so wie sie in den in der Session vorgestellten Projekten in der Praxis umgesetzt worden seien.

Fabian Ochs von der Universität Innsbruck stellte in seiner Präsentation „Netto Null? Low Lech – Low Cost?“ die Erkenntnisse aus dem Monitoring zweier Innsbrucker Wohnbauprojekte vor. Schwerpunkt war die Vorstellung der Messergebnisse zum Projekt „Vögelebichl“, einer Wohnanlage mit 26 Wohnungen in zwei Gebäuden. Ziel des als „Passivhaus Plus“ zertifizierten Projekts der Neuen Heimat Tirol war es, den Standard Netto-Null zu erreichen, d.h. in der Jahresbilanz gleich viel PV-Strom zu erzeugen, wie das wärmepumpenbeheizte Gebäude für Heizung, Warmwasser und Hilfsstrom benötigt. Wie das Monitoring zeigt, erreichten die Gebäude nach Optimierung im Betrieb sehr niedrige Endenergie­verbräucheHeiz+WW von 9 bis 11 kWh/m2EBFa. Der Endenergieverbrauch inkl. Hilfsstrom konnte durch die PV-Erträge nicht ganz gedeckt werden, dies wäre aber durch weitere Optimierungen möglich. Mit zusätzlichen PV-Modulen in den Südfassaden könnte zusätzlich auch der Haushaltsstromverbrauch jahresbilanziell gedeckt werden.

Das Projekt „An der Lan“ der Innsbrucker Immobilien Gesellschaft erreicht ebenfalls den Standard „Passivhaus Plus“, hat aber ein anderes Energieversorgungssystem: um die Verteilverluste zentraler Wärmeerzeugungssysteme zu vermeiden, werden sowohl für die Heizung als auch für die Warmwasserbereitung wohnungsweise elektrisch-direkte Systeme eingesetzt. Der im Vergleich zu wärmepumpenversorgten Gebäuden höhere Strombedarf soll durch eine sehr groß dimensionierte, fassadenintegrierte PV-Anlage gedeckt werden. Wie das Monitoring zeigt, lag der EndenergieverbrauchHeiz+WW mit 37,5 kWh/m2EBFa etwa 3,5-fach höher, als im Projekt Vögelebichl, so dass die große PV-Anlage den Endenergie­verbrauchHeiz+WW jahresbilanziell nur zu etwa 57% decken konnte. Da besonders der winterliche Stromverbrauch des el. direkt beheizten Gebäudes weit höher ist, als bei Beheizung über eine Wärmepumpe, empfiehlt sich das Konzept nicht zur Nachahmung: die PV-Anlage kann im Winter nicht zur Deckung des Strombedarfs für die Heizung beitragen, so dass aus dem Netz „dreckiger“ Strom mit hohen Anteilen an Importstrom bezogen werden muss.

Johannes Kaufmann stellte in seiner Präsentation die Entwicklung des elementierten Holzrahmen- und –modulbaus in den vergangenen 15 Jahren dar. Gerade der Holzmodulbau, in dem vorgefertigte Raummodule verschiedener Größen komplett vorgefertigt werden, wurde deutlich weiterentwickelt und u.a. in den „Wohnen 500“ Projekten in Vorarlberg und in Projekten in Deutschland eingesetzt. Die Bauweise ermöglicht einen sehr guten Wärmeschutz, kurze Bauzeiten, differenzierte Grundrisslösungen, geringe Energieaufwände für die Herstellung und seit der zweiten Generation auch Flächenheizungen  – eine wichtige Option, um die Beheizung der Gebäude mit Wärmepumpen zu ermöglichen. Die Kosten von Mehrfamilienhäusern in Holzbauweise können – zumindest in Vorarlberg – bei holzbau­gerechter Planung auf dem Niveau von Gebäuden aus mineralischen Wandbildnern liegen.

Das Holzmodulbausystem des Vorarlberger Anbieters purelivin stellte Gerhard Lußnig vor. Das System kann – obwohl auf wenige Grundelemente aufgebaut – in Gebäuden mit Laubengang, Spänner- und Atriumerschließung eingesetzt werden, ermöglicht unterschiedliche Wohnungsgrößen und kann durch unterschiedliche Außenmaterialien den Gegebenheiten vor Ort sowie den Gestaltungswünschen der Bauherren angepasst werden.

In seinem Vortrag „5 Mal gebaut, drei Mal gemessen“ fasste Tobias Hatt vom Energieinstitut Vorarlberg die Erkenntnisse der Vorarlberger Wohnbauforschungsprojekte der vergangenen Jahre zusammen. Am Beispiel des Projekts KliNaWo der VOGEWOSI zeigte er auf, wie dynamische Anlagen- und Gebäudesimulationen und Monitoring dazu eingesetzt werden können, etwaige Fehler im Betrieb zu entdecken und zu beheben: Während der Ertrag der thermischen Solaranlage im ersten Jahr unbefriedigend war, wurde nach der Optimierung im zweiten Jahr der vorausberechnete Wert erreicht. Der Endenergieverbrauch des Projekts lag mit 14 kWh/m2WNFa schon im ersten Jahr knapp unter dem Wert der PHPP-Verbrauchsprognose­berechnung, die abgerechneten Kosten deutlich unter den mittleren Kosten der knapp 70 zeitgleich geplanten und gebauten gemeinnützigen Wohnbauprojekte in Vorarlberg. Die Miete konnte nach dem ersten Jahr zwei Mal gesenkt werden.

Am Beispiel der Wohnanlage Wolfurt Lerchenstraße (Wohnbauselbsthilfe + Rhomberg Bau) demonstrierte er, dass Mehrfamilienhäuser mit hocheffiziente Gebäudehüllen in Massiv- und in Holzbauweise zu ähnlichen Kosten errichtet werden können, dass für diese Gebäude wärmepumpenbasierte Heizsysteme zu den niedrigsten Lebenszykluskosten führen und dass die Verluste der Wärmeverteilung zentraler Heizzentralen durch ein kurzes Leitungsnetz, gute Leitungsdämmung und niedrige Systemtemperaturen (Wohnungsübergabestationen) sehr stark reduziert werden können.

An den Simulationsergebnissen der Wohnanlage Dafins (2 Mal 6 Wohneinheiten, Alpenländische Heimstätte) zeigte er, dass sehr niedrige Energiebedarfe für Heizung und Warmwasser sowohl mit zentralen, als auch mit semizentralen Wärmepumpensystemen erreicht werden können. Die in den beiden Gebäuden eingesetzten unterschiedlichen Systeme sind sowohl bezüglich des rechnerischen Energiebedarfs, als auch bezüglich der Errichtungskosten sehr ähnlich. Welches System sich in der Praxis für welche Haushaltsformen am Besten bewährt, wird das im Oktober 2020 gestartete Monitoring zeigen.

Wichtigste Erkenntnis aus dem Projekt Dafins ist, dass die Kosten von PV-Anlagen in den vergangenen Jahren so stark gesunken sind, dass auch größere Anlagen in Mehrfamilienhäusern wirtschaftlich betrieben werden können. In Dafins wurde pro Gebäude eine 30kWp-Anlage installiert, dies bedeutet eine Größe von 5 kWp pro Wohneinheit. Dank der auf etwa 840 EUR/kWp gesunkenen Nettokosten wäre die Anlage auch ohne OEMAG-Förderung (annähernd) kostenneutral zu betreiben. Mit der für das Projekt gewährten Förderung ist sie sowohl für Vermieter als auch für Mieter wirtschaftlich.

Ferdinand Sigg untersuchte in seinem Vortrag die Fragestellung, ob ein sehr effizientes Mehrfamilienhaus wie das KliNaWo-Gebäude klimaschutzgerecht mit Gas statt mit der realisierten Wärmepumpen-Lösung betrieben werden könnte. Die klare Antwort lautet: nein! Aufgrund der hohen spezifischen Treibhausgasemissionen des Energieträgers Gas lägen die Emissionen auch im sehr hohen Effizienzstandard des Projekts KliNaWo mit Passivhaushülle und großer Solarthermie zu hoch. Im Vergleich zur ansonsten identischen Realisierungsvariante mit Wärmepumpenheizung lägen sie um den Faktor 2,5 höher.

In einer weiteren Auswertung zeigte Ferdinand Sigg, dass das KliNaWO-Gebäude mit Wärmepumpe in Kombination mit PV in etwa die gleichen Treibhausgasemissionen erreichen würde, wie in der Ausführungsvariante mit großer Solarthermieanlage. Aufgrund der seit Errichtung des KliNaWo-Gebäudes deutlich gesunkenen PV-Kosten würde ein Nachfolgeprojekt vermutlich mit PV ausgestattet.

Zuletzt aktualisiert am 15. Dezember 2020