Die Disruption ist dem Kern des Schweizers fremd und deshalb bemüht er sich, Übergänge geordnet abzuhalten. Wie die Transformation der Gesellschaft hin zu einer nachhaltigen nach Schweizer Modell aussehen kann und warum die Architekten als Gestalter des Raums sie prägen sollten, diskutierten der Geschäftsführer des Schweizer Ingenieur- und Architektenvereins Hans-Georg Bächtold, Bauunternehmer Hubert Rhomberg, Landesrat Erich Schwärzler und Energieautonomie-Chef Christian Vögel am ersten Abend der Energie Lounge 2017.
Als am 24. Jänner 1837 der Schweizer Ingenieurs- und Architektenverein SIA gegründet wurde, so geschah dies aus der Notwendigkeit, den Herausforderungen aus rasant auf die Gesellschaft hereinbrechenden Innovationen und zunehmender Landnahme durch die wachsende Bevölkerung strukturiert und mit technischer (und Schweizer) Rationalität zu begegnen. Während sich die Fragen damals auf das Bewältigen von Naturgegebenheiten (Wie kommen wir mit dem Zug über den Berg?) und Naturgefahren (Wie halten wir den Berg davon ab, mit Zug über uns zu kommen?) fokussierten, scheinen sie heute komplexer, wenngleich die Vorzeichen auch 180 Jahre später dieselben sind: dynamische Entwicklung und drohende Naturereignisse on the rise.
Aus diesem Anlass beschäftigt sich der SIA auch fast zweihundert Jahre nach seiner Gründung mit der Frage, wie die Entwicklung verlaufen und welche Rolle dabei jenen zukommen wird, die Räume entwerfen und materialisieren. Im Zuge dieser Beschäftigung identifiziert Bächtold vier „tiefenwirksame Herausforderungen“ (der weniger Reflektierte würde „Megatrends“ sagen): den Klimawandel, die Digitalisierung, die Globalisierung und das Bevölkerungswachstum.
Eine brodelnde Mischung tut sich da potentiell zusammen, die sich laut Bächtold verorten muss. Und Platz hat’s grundsätzlich genug, wenn es gelingt, Räume in Zukunft maß- und sinnvoll zu nutzen und insbesondere der Zersiedelung entgegen zu wirken. Das „Zusammenrücken“ müsse selbstverständlich mit ortsspezifischem Fingerspitzengefühl erfolgen (Die Bedeutung dessen – das konnte Bächtold nicht ahnen – wurde am zweiten Abend der Energie Lounge von der Architekturpublizistin Marina Hämmerle engagiert verdeutlicht.) und unter Bedachtnahme der künftigen Rolle jener peripherer Lagen, die – teils schon heute von Abwanderungstendenzen gebeutelt – als Siedlungsräume wohl zur Disposition gestellt würden.
„Glauben Sie, dass es intelligent ist, für 30.000,- Euro ein Auto zu kaufen?“ SIA-Geschäftsführer Hans-Georg Bächtold glaubt das nicht.
Die Digitalisierung würde laut Bächtold künftig aber dazu beitragen, neue Räume für das Zusammenrücken zu schaffen. Die Digitalisierung der Mobilität beispielsweise, denn prägten autonome und geteilte Fahrzeuge den Straßenraum, würden sich weniger von ihnen und die dafür permanent in Bewegung befinden – und der Raum für die „Stehzeuge“ wäre nicht mehr gebraucht und damit frei für neue Nutzungen. Ohnehin wären die Schweizer (und die Vorarlberger schließt Bächtold mit ein) Weltmeister im Teilen: vom Zug bis zum Lift würde gemeinsam genutzt – warum also ein eigenes Fahrzeug besitzen, statt vorhandene zu teilen?
Dass sich durch die permanente Konnektivität Tun und Raum voneinander emanzipieren, schafft laut Bächtold neuen Bedarf nach Orten, in denen qualitativ hochwertige Begegnung entstehe – das Zusammenrücken sei also auch ein individuell gewolltes. Dass seinen Vereinsmitgliedern im Erfüllen dieses Bedarfs eine Schlüsselrolle zukommt, ist naheliegend. Gleichzeitig ändere die Digitalisierung auch deren Rolle. Während Planungsleistungen vereinfacht und automatisiert würden, falle den Architekten die Aufgabe zu, die Geschichten der Zukunft verständlich und erstrebenswert zu zeichnen und zu erzählen.
„Gerade in disruptiven Entwicklungen können die Architekten Gesichter einer erstrebenswerten Zukunft zeichen“, sieht SIA-Geschäftsführer Hans-Georg Bächtold die Rolle der Architekten in Zukunft stärker als Erzähler denn als Planer.
Mit einer erstrebenswerten Zukunft beschäftigt sich Christian Vögel, der als Leiter des Fachbereichs Energie und Klimaschutz im Amt der Vorarlberger Landesregierung die Energieautonomie Vorarlberg 2050 verantwortet – zumindest den gegenwärtigen Weg dorthin.
Der sieht vor, dass Vorarlberg bis 2050 über das Jahr betrachtet so viel Energie aus regional verfügbaren und erneuerbaren Quellen produziert, wie im Land verbraucht wird. Betrachtet man die nutzbaren Potentiale, wird klar, dass die Energieautonomie nur gelingt, wenn der Energieverbrauch um drei Viertel reduziert wird. Das ist bereits mit den vorhandenen Technologien möglich – was Christian Vögel anhand einer Familie ganz pragmatisch aufzeigt – und bedarf keiner Zauberformel. Allerdings einer bestimmten Geschwindigkeit, denn der Zeitraum bis 2050 ist kein ewig langer mehr. Gleich lang wie jener von 1984 bis heute, illustriert Vögel und zeigt dem staunenden (weil teils ziemlich jungen) Publikum sein Erstkommunionsfoto aus demselben Jahr – und alt schaut der Energieautonomie-Programmleiter wahrlich noch nicht aus.
Ein Stichwort, das auch in der nachfolgenden Diskussion fällt, nennt Vögel in diesem Zusammenhang als Herausforderung, basierten die Maßnahmen zur Energieautonomie derzeit noch auf „blanker Freiwilligkeit“. Dem sei per se nichts entgegen zu halten, allerdings müsse überlegt werden, an welchen Stellen die Gesellschaft lenkend eingreife. Während die Digitalisierung ohne regulatives Zutun stattfinde, wäre diese Dynamik bei der Dekarbonisierung nicht gegeben und müsse – weil für eine positive gesellschaftliche Entwicklung unabdingbar – befördert werden. Das sei heute schwieriger als 1984, als der Staat anlässlich der Schwefeldioxidkonzentration einschränkende Maßnahmen ergriffen hat. Das plakative Waldsterben habe in der Bevölkerung allerdings auch breites Verständnis für diese Maßnahmen generiert, was beim noch nicht unmittelbaren Spüren von Auswirkungen der Erderwärmung nicht der Fall sei.
„Die Energieautonomie Vorarlberg bringt als Begleiteffekt die weitgehende Dekarbonisierung Vorarlbergs mit sich.“ Für Christian Vögel ist die Energieautonomie Vorarlberg der regionale Beitrag zu den Vereinbarungen der Pariser Klimakonferenz von 2015.
Den Klimawandel und die Anpassung an den unausweichlichen Teil von dessen Folgen sieht Landesrat Erich Schwärzler als eine der zentralen politischen Herausforderungen der nahen Zukunft, die er aber in einem größeren Zusammenhang gesehen haben will. Der Umgang mit den Folgen der Erderwärmung, das Sichern des Standorts als weltmarktfähiger Wirtschaftsraum, Bildung und Wissen als Erfolgsfaktoren und solide Finanzen wären letzten Endes nur Strategien, um Vorarlberg als sicheren und zukunftsfähigen Lebensraum zu erhalten.
„Wie gelingt es uns, in Frieden, Freiheit und Sicherheit zu leben?“ ist für Landesrat Erich Schwärzler unsere zentrale Herausforderung bis 2050.
Unternehmer Hubert Rhomberg kritisiert die unreflektierte Zugkraft des Konsums und des Dogmas „Wachstum“. Denn letzter finde derzeit auf Kosten der Nachhaltigkeit statt und dürfe nicht im Selbstzweck begründet sein. Konkrete Perspektiven, das zu ändern, sieht er derzeit noch nicht, denn die Frage, wie eine Weltwirtschaft ohne Wachstum aussehe, sei gesellschaftlich noch unbeantwortet. Den Fragen was wir brauchen, was wir haben müssen und was uns glücklich macht, müssten wir uns allerdings stellen – eine Aufgabe, die uns derzeit noch von der Konsumindustrie abgenommen wird. Die Fähigkeit zur Reflexion spricht er der Gesellschaft aber nicht ab: „Im Idealfall werden wir abspecken wollen.“
Von wesentlicher Bedeutung für eine gesellschaftliche Neuorientierung – bezieht sich Rhomberg auf Bächtolds Forderung nach einem Gegenwirken zur Entkoppelung von Raum und Tun – sei das Schaffen hochwertigen öffentlichen Raumes. Die Digitalisierung schaffe Möglichkeiten, Projekte besser zu visualisieren und die Betroffenen stärker in die Planung miteinzubeziehen –ja sogar dazu zu bewegen, den öffentlichen Raum wieder stärker für sich zu reklamieren. Integrative Prozesse und die ehrliche und umfassende Beteiligung von Bürgern wären in der Entwicklung des Lebensraumes essentiell. Und in Bezug auf Bächtold meint auch Hubert Rhomberg, dass es „in hundert Jahren völlig unverständlich sein wird, dass wir unseren knappen öffentlichen Raum mit Stehzeugen zugeparkt haben“.
„Wir brauchen den Mut für ein breit aufgestelltes, neues Zielbild für den öffentlichen Raum, an dem wir Entscheidungen ausrichten können.“ Unternehmer Hubert Rhomberg sieht den öffentlichen Raum als wichtigen Kern einer zukunftsfähigen Gesellschaft.
Ob wir es verstehen, die Digitalisierung dazu zu nutzen, unsere Gesellschaft positiv zu entwickeln, lässt Rhomberg offen. Zu viele Fragen sind unbeantwortet, vom Umgang mit der Hoheit auf Daten und der Transparenz deren Beschaffung und Nutzung bis hin zu den Ansprüchen an die Demokratisierung von Prozessen in der Gesellschaft wie auch in Unternehmen.
In diesem Zusammenhang formuliert Bächtold eine klare Aufgabe: Es werde wichtig sein, dass die öffentliche Hand proaktiv Entwicklungen angehe und nicht dort legistisch die Notbremse ziehe, wo der Zug schon abgefahren sei. Grundsätzlich ist Bächtold aber wie seine drei Gesprächspartner am Podium Optimist: „Ich glaube an die Vernunft des Menschen, auch wenn es eine bestimmte Inkubationszeit braucht.“
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Bildnachweis (alle Bilder dieser Seite): Darko Todorovic.