Wie organisiert man eigentlich die gesellschaftliche Transformation? Welche Strukturen sind erfolgsversprechend? Und wo können Hebel angesetzt werden? Und welche Rolle spielen die vielen mehr oder weniger kleinen Initiativen engagierter Akteurinnen und Akteure, die so genannten Grassroot- oder zu deutsch: Graswurzel-Bewegungen? Diesen und anderen Fragen geht die Soziologin Mirijam Mock auf den Grund. Lesen Sie selbst.

„Derzeit sind es weniger die Bundesregierung und große Wirtschaftsunternehmen, die die Energiewende vorantreiben, sondern vor allem zivilgesellschaftliche Akteure“, schreibt die deutsche Wochenzeitung „Zeit“ und meint damit vor allem das rasante, exponentielle Wachstum von Energiegenossenschaften: Konnte man die Neugründungen 2005 in Deutschland noch an einer Hand abzählen, so werden derzeit an die 200 jährlich gegründet. Aber nicht nur im Energiebereich wird sehr viel Hoffnung in die Zivilgesellschaft gesetzt. Für Aufsehen hat 2011 das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltfragen gesorgt, als es die „Pioniere des Wandels“ als wesentlichste Akteure für ein zukunftsfähiges Deutschland und Europa nannte.

Graswurzel-Bewegungen als Motor des Wandels?

Kann oder muss der Wandel zu mehr Nachhaltigkeit also wirklich von unten, aus den sogenannten „Graswurzel“-Bewegungen heraus entstehen? Sind es wirklich die Carsharing-, Repair-Caféoder Kleidertauschinitiativen, die Veränderung bringen sollen und können? Die Frage, ob ein gesellschaftlicher Wandel zu mehr Nachhaltigkeit „von oben“ durch dementsprechende gesetzliche Regelungen oder „von unten“ durch Initiativen, die andere Formen des Wirtschaftens, Konsumierens, Wohnens und Arbeitens vorleben, passiert, ähnelt natürlich der Henne-Ei-Problematik und kann nicht eindeutig beantwortet werden. Beispielsweise zeigt gerade das exponentielle Wachstum der Energiegenossenschaften in Deutschland, dass die staatlichen Förderungen (und die Einschränkung dieser) nicht ohne Wirkung blieben.

Partizipative Prozesse in der Seestadt Aspern

Miteinander statt nebeneinander: Im Co-Housing Projekt Seestern Aspern führen partizipative Prozesse und gemeinschaftlich genutzte Einrichtungen zu aktiven Nachbarschaftsstrukturen.

Die Erforschung des Wandels

Dennoch ist es klar, dass finanzielle Förderungen allein nicht für diese Trendwende ausreichend sind. So klar, dass die EU-Kommission jährlich mehrere Millionen Euro ausgibt um zu erforschen, wie Nachhaltigkeitsinitiativen wirken und funktionieren und wie sie politisch unterstützt werden können. Transitionsforschung nennt sich dies. Dabei versuchen Wissenschafter / innen Methoden der „ Aktionsforschung“ anzuwenden um zu verstehen, wie all diese unterschiedlichen Initiativen zusammenhängen, was sie erfolgreich macht (bzw. was überhaupt Erfolg in diesem Kontext bedeutet) und aus welchen „Fehlern“ gelernt werden kann. Wie das „ABC der Nachhaltigkeitsinitiativen“ (den Link dazu finden Siein der rechten Randspalte) zeigt, scheint es an praktizierten Alternativen für ein enkeltaugliches Leben, Arbeiten, Wirtschaften oder Konsumieren nicht zu mangeln. Doch warum sind diese Initiativen noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angelangt? Oder anders gefragt, wie können sie bekannter und größer werden? Oder können Initiativen wie ein Gemeinschaftsgarten, ein Leihladen oder eine Mitfahrbörse überhaupt über ihr Stadtviertel oder ihre Region hinaus wirken? Ist es nicht eher so, dass der Gemeinschaftsgarten hinter dem nächsten Häuserblock schon nicht mehr sichtbar ist, der Leihladen überhaupt nur den wenigen alternativen Studierenden bekannt ist und die Zahl der über eine Mitfahrbörse organisierten Fahrten lächerlich ist, gemessen am Gesamtpersonenverkehrsaufkommen?

Aus Klein mach Groß: Upscaling

Eine der häufigsten Fragen in der Transitionsforschung ist tatsächlich, wie aus einer kleinen Initiative, aus einer lokal beschränkten Alternative etwas Größeres werden kann. „Upscaling“ (Höherskalierung) wird das dann genannt. Die Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Gill Seyfang studiert seit Jahren Innovationen im Graswurzel-Bereich und ist gegenwärtig eine der besten Kenner innen von lokalen Währungen. In ihren internationalen Untersuchungen konnte sie drei Wege beobachten, wie Initiativen sich verbreiten: Erstens vervielfältigen sich erfolgreiche Initiativen. Die bekannte österreichische Lokalwährung „Waldviertler“ erfand die Funktionsweise der Lokalwährung zum Beispiel nicht selbst, sondern kopierte Funktionierendes von anderen Lokalwährungen. Zweitens wachsen viele Initiativen zu größeren, auch überregional bekannten und angewandten Projekten heran – so auch der Waldviertler. Und drittens übertragen viele Initiativen ihre Funktionsweise auf andere Bereiche. Die Funktionsweise der Lokalwährung dürfte zum Beispiel den Waldviertler Schuhproduzenten H. Staudinger inspiriert haben, wie Finanzierungen ohne Kredite konventioneller Banken, aber mit Ausstellung von Gutscheinen an Investor / innen aufgestellt werden können. Wenn auch zum Missfallen der Finanzmarktaufsicht.

Upscaling: Ein gutes Netzwerk ist die halbe Miete

Doch wie wahrscheinlich ist es, dass Initiativen sich auf eine dieser drei verschiedenen Weisen verbreiten können? In den internationalen empirischen Studien von Gill Seyfang stellt sich die Dichte des Netzwerkes, in welchem Initiativen eingebettet sind, als zuverlässigstes Voraussagekriterium dafür heraus. Je mehr Veranstaltungen, Newsletter, aktuelle Webseiten, Weiterbildungen, Handbücher, Vorzeigemodelle usw. im Umfeld einer Initiative existieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass deren Wirkung sich über das Stadtviertel, die Gemeinde, die Region oder das Land hinaus verbreitet. Und für die Bildung eines solchen Netzwerkes sei wiederum die Rolle von Vermittler- Organisationen, also Organisationen, die all diese Einzelinitiativen untereinander und mit der politischen Ebene verknüpfen, ganz zentral. Doch selbst wenn sich Initiativen auf alle möglichen Weisen verbreiten, diffundieren, upscalen, selbst wenn aus drei Food- Coops 20 werden – so geschehen in den letzten fünf Jahren in Wien – ist der Anteil am Gesamtlebensmittelkonsum, die in Wien über FoodCoops bezogen werden, verschwindend gering. Kann dies also wirklich als Vorzeigemodell betrachtet werden? Ist es auch nur ansatzweise berechtigt, hier von „exponentiellem Wachstum“ zu sprechen, sind das nicht viel mehr nur winzige Nischen?

Die Nischen als Keimzellen der Veränderung

Folgt man der Theorie der „Multi Level Perspective“ so sind es aber genau diese Nischen, die die Keimzellen für Veränderungen sind. Hier wird in einem geschützten und sicheren Bereich mit zukunftsfähigen Lebens- und Arbeitsformen experimentiert, nicht Praktikables verworfen und Funktionierendes weiterentwickelt und so der Weg für radikale Innovationen und Veränderungen bereitet. Bedeutend werden die Nischen, wenn sie sich verbinden und das sogenannte „Regime“, also den gesellschaftlichen Mainstream beeinflussen. Der Schutz der Nischen vor selektiven Marktmechanismen ist besonders wichtig für deren Entwicklung, meint Frank Geels, Professor für nachhaltigen Konsum in Manchester. Er spricht davon, dass „Inkubationsräume“ geschaffen werden müssten und sieht als sehr erfolgreiches Beispiel dafür sogar das Militär: Hier konnten sich zahlreiche technologische Innovationen wie z. B. das Internet in ihrer Nischenphase entwickeln. Getragen werden die Nischen von kleinen Netzwerken engagierter Personen. Oft sind dies Außenseiter / innen oder Randakteur / innen. Die „Multi-Level Perspective“ stammt aus der Innovationsforschung und erklärt damit so unterschiedliche gesellschaftliche Transformationen wie die Ablösung der Pferdewägen durch das Automobil, den Wandel der Energieformen oder die Durchsetzung des Rock’n Roll. Warum also nicht auch Innovationen wie Carsharing, Biolandwirtschaft oder Energiegenossenschaften durch diese Linse betrachten? Spricht man z. B. mit den österreichischen Biopionier / innen aus dem Mühlviertel, so wird schnell klar, dass vor 30 Jahren Bio nicht wie heute in jedem Supermarkt gefunden werden konnte und die Region stolz auf ihren hohen Anteil an Biolandwirtschaft war, sondern sie oft genug die „Verrückten und Spinner“ waren. Angewandte Multi-Level Perspective Theorie aus dem Bilderbuch sozusagen. Was muss aber passieren, dass sich eine Nische so erfolgreich entwickeln kann, dass sie die gesellschaftliche Mehrheit beeinflussen kann?

Gemeinschaftsgärten sind dem Stadium der Nische entwachsen und wurden bereits in zahlreichen Gemeinden etabliert. Bildnachweis: wikimedia.org / Nifoto

Gemeinschaftsgärten sind dem Stadium der Nische entwachsen und wurden bereits in zahlreichen Gemeinden etabliert. Bildnachweis: wikimedia.org / Nifoto

Wege aus der Nische

ICLEI, das weltweite Netzwerk für nachhaltige Städte, arbeitet in mehr als 1.200 Orten mit Graswurzel-Bewegungen zusammen und konnte beobachten, dass es mehrere symbolische Austragungsorte für erfolgreiche Initiativen gibt und braucht: Zum Start brauchen Nischen einen „Aussichtsturm“, der den Blick freigibt auf eine starke Zukunftsvision. So wie dies die jährlich in Vorarlberg stattfindenden „Tage der Utopie“ tun. Dann entwickeln sich Nischen am „Spielplatz“, indem sie ohne Angst vor Fehlern und frei von hierarchischen und strukturellen Zwängen mit Alternativen und Innovationen spielerisch experimentieren und so vom Wissen zum Tun kommen. „Klimafreundlich kochen ist ein Kinderspiel“ meint die Vorarlberger Initiative „Probier amol“ und lädt zum Experiment ein. Aber es braucht auch „Brücken“, um Kooperationen zu schließen, die vielleicht unüblich, aber gerade deshalb fruchtbar sind. Wie das Vorarlberger Unternehmensnetzwerk „Live im Betrieb“, in welchem Unternehmen kooperieren statt konkurrieren und Tipps und Tricks im Bereich Energie weitergeben. Wichtig ist auch das „Forum“. Dort werden neue (Erfolgs)Geschichten erzählt und Emotionen geweckt. Aus diesem Grund sind Events wie das e5- Event, das Gemeinden, die im Bereich Energieeffizienz Erfolge erzielen konnten, feiert und auszeichnet, wichtig. Und schließlich geht es darum, in der Fabrik Prototypen zu standardisieren ohne dabei die Herzstücke dieser zu verlieren. Die Vorarlberger Carsharing-Initiative „ Caruso“ versucht das Konzept Auto teilen alltagstauglich umzusetzen ohne dabei, wie viele kommerzielle Unternehmen, auf die ökologischen Kernwerte zu vergessen. Wirken Initiativen in diesen Dimensionen, haben sie sehr gute Chancen, den Weg aus der Nische zu finden.

Am Ende des Tages sind es die Engagierten

Die Transitionsforschung kann also zu einem bestimmten Grad Erfolgsgeheimnisse von Nischen erklären, warum diese wichtig sind und wie diese die Gesellschaft beeinflussen. Das Spannende ist aber, dass es gerade nicht möglich ist, mit mathematischen Gleichungen oder Modellen die Entwicklung oder das Diffusionspotenzial vorauszusagen. Denn Nischen sind nichts anderes als engagierte Menschen und diese sind wichtiger als alle externen Einflussfaktoren. In meinen Untersuchungen zu den Erfolgsfaktoren der nachhaltigen Entwicklung der Region Donau-Böhmerwald fragte ich eine Interviewpartnerin, was sie so sehr für das Thema brennen lässt. Ihre einfache aber präzise Antwort, war, dass es die Menschen sind, die auch mal gegen den Strom schwimmen ohne sich zu fragen, was es für sie selbst bringt. Es sind weder technologische Neuerungen, noch Produkte oder Informationspakete, sondern Menschen, die begeistern, inspirieren, motivieren, mitreißen und so zukunftsfähige Alternativen aus der Nische rausführen.

 


Zuletzt aktualisiert am 15. Dezember 2015